
16. Mai 2025, Thema: Bodenökotoxikologie
Regenwürmer meiden Reifenabrieb
Reifenabrieb gelangt von der Strasse in die angrenzenden Böden und wirkt auf die dort lebenden Bodenorganismen. Eine neue Studie zeigt, dass Regenwürmer Boden meiden, der stärker mit Reifenpartikeln belastet ist. Die Partikel hatten aber keine negativen Effekte auf das Überleben und die Fortpflanzung der Tiere.
Autoreifen nutzen sich während der Fahrt ab, was nicht nur die Lebensdauer der Reifen verringert, sondern auch zur Bildung von Reifenabrieb führt. Die so gebildeten kleinen Partikel enthalten Gummi, Mineralien, Bitumen und zahlreiche Chemikalien, die teils von den Reifen selbst und teils von der der Strassenoberfläche stammen. Jahr für Jahr wird mehr Reifenabrieb gebildet – Schätzungen zufolge sind es jährlich mehr als 3 Millionen Tonnen, die weltweit freigesetzt werden.
Reifenabrieb gelangt von der Strasse in angrenzende Böden
Der Grossteil der entstandenen Partikel wird nahe der Fahrbahn abgelagert, von wo sie in die angrenzenden Böden und teilweise in Gewässer gelangen. Man geht davon aus, dass ungefähr 70% der Kunststoffteilchen an den Strassenrändern und in den benachbarten Böden bleiben. Die Konzentration der Partikel ist dabei direkt neben der Strasse am höchsten und nimmt mit zunehmender Entfernung ab. Ein kleiner Teil des Reifenabriebs kann jedoch mit der Luft auch in weiter entfernte Gebiete verfrachtet werden.
Reifengummi enthält zahlreiche chemische Zusätze wie Vulkanisiermittel, Antioxidantien, Ozonschutzmittel, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) und Schwermetalle, die für Haltbarkeit, Flexibilität und Schutz der Reifen sorgen. Es ist bekannt, dass einige dieser Chemikalien schädlich für Wassertiere sein können: So ist zum Beispiel das Oxidationsprodukt einer Reifenchemikalie, 6PPD-Chinon, hochgiftig für Silberlachse und hat in einigen Gewässern Nordamerikas bereits zu einem Sterben der betroffenen Lachse geführt. Die Wirkung scheint jedoch artspezifisch zu sein, da verwandte Arten oder Krebstiere weniger oder gar nicht betroffen sind.
Stoffe mit potenziell östrogener, gentoxischer und bakterientoxischer Wirkung
Gleichzeitig ist die Toxizität vieler anderer Reifeninhaltstoffe und ihrer Umwandlungsprodukte noch nicht vollständig geklärt. Eine Studie des Oekotoxzentrum hat gezeigt, dass Reifen Stoffe enthalten, die potenziell östrogen, gentoxisch und bakterientoxisch wirken und in die Umwelt abgegeben werden können. Einige Chemikalien aus Reifen könnten sich in der Nahrungskette anreichern, was über den Fischverzehr auch Folgen für fischfressende Tiere oder Menschen hätte.
Weil der Reifenabrieb zunächst in Böden gelangt, sind ihm die dort lebenden Tiere wie Regenwürmer und Nematoden durch ihre Lebensweise – nämlich das Durchwühlen und Fressen von Boden – besonders stark ausgesetzt. Daher hat das Oekotoxzentrum zusammen mit der EPFL und der Eawag untersucht, inwieweit sich Chemikalien aus Reifenabrieb in Regenwürmern anreichern, einer Schlüsselart im Ökosystem. «Ausserdem wollten wir wissen, ob diese Partikel das Verhalten, Überleben, Wachstum und die Fortpflanzung der Tiere beeinflussen», sagt EPFL-Forscher Thibault Masset, der die Studie durchgeführt hat.
Modellpartikel aus Reifenprofilen
«Für die Modellpartikel wurde die oberste Schicht von Reifenprofilen verschiedener Hersteller bei extrem niederen Temperaturen zu Partikeln zermahlen», erklärt er. «Die Partikel wurden anschliessend mit natürlichem Boden vermischt, um zwei verschiedene Belastungen zu erreichen: gering kontaminierten Boden (0,05 % Reifenpartikel), der für Boden steht, der weiter von Strassen entfernt ist. Und stark kontaminierten Boden (5 % Reifenpartikel), der Boden in der Nähe von Strassenrändern repräsentiert.» Ein zusätzlicher Boden wurde mit dem Auswaschwasser von Reifenpartikeln behandelt, ohne selbst Partikel zu enthalten. So sollte eine Belastung mit den aus Reifen gelösten Chemikalien simuliert werden. Die Regenwürmer wurden drei Wochen lang im mit Reifenabrieb versetzten Boden gehalten und anschliessend genauer untersucht.
Aufnahme von Chemikalien in Regenwürmer
«Wir haben die Bodenproben und die Regenwürmer chemisch analysiert», erzählt Thibault Masset. «Dabei haben wir festgestellt, dass der Boden mit 5% Reifenpartikeln wie erwartet die Reifenchemikalien in höheren Konzentrationen enthielt als der Boden mit 0,05% Reifenanteil.» Die meisten Reifenchemikalien aus den stärker belasteten Böden konnten anschliessend auch im Wurmgewebe nachgewiesen werden. Die Regenwürmer nahmen die Stoffe durch das Fressen des Bodens auf. Auch der Kontakt mit dem Boden mit 0,05% Reifenpartikeln oder mit dem Reifenextrakt führte dazu, dass einige Reifenchemikalien in den Würmern in erhöhten Konzentrationen vorlagen. Dies zeigt, dass auch bei einer kleineren Partikelkonzentration Chemikalien aus den Reifen in Organismen gelangen.
«Es hat uns interessiert, wie schnell die Würmer diese Chemikalien aufnehmen und wieder ausscheiden», erklärt Thibault Masset. Die Tiere nahmen die meisten Stoffe rasch auf, schieden sie aber ebenso schnell wieder aus, wenn sie auf einen sauberen Boden umgesetzt wurden. Die unpolaren PAK verblieben länger im Wurmkörper. «Die Stoffe reicherten sich im Wurmkörper nur wenig an», sagt Thibault Masset. «Dies galt auch für die PAK oder für 6-PPD-Chinon, wo wir aufgrund der chemischen Eigenschaften eine Anreicherung erwartet hatten.» Dies kann bedeuten, dass die Stoffe im Wurmkörper sehr effizient umgewandelt oder ausgeschieden werden. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Chemikalien so stark an die Partikel gebunden sind, dass sie im Porenwasser oder der Verdauungsflüssigkeit der Würmer nur schwer abgelöst werden und daher nur wenig bioverfügbar sind. «Obwohl die Zinkkonzentration im Boden durch das Reifenmaterial stark anstieg, reicherten die Würmer in ihrem Körper kein Zink an», sagt Thibault Masset. «Dies vermutlich, weil die Würmer die Fähigkeit haben, die Zinkkonzentration in ihrem Körper selbst zu regulieren. Geringe Mengen an Zink sind für die Regenwürmer lebenswichtig, hohe Konzentrationen jedoch schädlich.»
Vermeidung aber kein negativer Effekt auf Fortpflanzung
Mit einem Vermeidungstest wurde analysiert, ob die Tiere dem belastetem Boden aktiv ausweichen, wenn sie eine Wahl haben. Dazu wurden die Regenwürmer für zwei Tage in einem Versuchsgefäss gehalten, das auf der einen Seite belasteten und auf der anderen sauberen Boden enthielt, und anschliessend untersucht, in welche Gefässhälfte sich die Würmer bewegten. Die Würmer wichen bei höheren Reifenkonzentrationen dem belasteten Boden stark aus, bei geringeren Reifenkonzentrationen wurde kein Effekt beobachtet. «Bei höheren Reifenpartikelkonzentrationen erwarten wir also negative Effekte auf Regenwürmer und der Boden ist womöglich nicht mehr als Lebensraum für die Tiere geeignet», so Masset. Der Boden, der mit 5% Reifenpartikeln versetzt wurde, roch ausserdem stark nach Reifenchemikalien, was darauf hindeutet, dass die Reifen flüchtige Stoffe freisetzten. Es könnte sein, dass die Würmer den kontaminierten Boden meiden, weil einige Reifenchemikalien bioverfügbar sind und auf die Würmer abstossend oder giftig wirken. Alternativ könnte das Vermeidungsverhalten eine Folge der veränderten Bodenstruktur durch die Zugabe der Kunststoffpartikel sein.
«Wir haben auch untersucht, wie sich die Reifenpartikel auf das Überleben und die Fortpflanzung von erwachsenen Regenwürmern auswirken», berichtet Thibault Masset. «Hier konnten wir keine signifikanten Effekte beobachten.» Die Würmer hatten mit zunehmender Reifenkonzentration ein wenig mehr Nachkommen als die Kontrollwürmer (der Effekt war nicht signifikant), gleichzeitig waren jedoch die Jungwürmer zunehmend leichter. «Es könnte sein, dass biologischer Stress bei den Würmern zu mehr Nachkommen führt», erklärt Thibault Masset, «durch die höheren Energiekosten sind die Jungtiere allerdings kleiner. Oder die Jungtiere werden durch die Reifenpartikel direkt beeinträchtigt.» Es brauche weitere Untersuchungen, um mehr über mögliche längerfristige Folgen für zukünftige Generationen oder das Ökosystem zu erfahren.