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Reifenabrieb – toxisch für Fische?

18. November 2022, Thema: Aquatische Ökotoxikologie

Reifenabrieb – toxisch für Fische?

Versuche mit Kiemenzellen und Darmzellen von Regenbogenforellen zeigen, dass die Konzentrationen an Reifenabrieb, die in der Umwelt gefunden werden, nicht akut toxisch für Fische sind. Die chronische Toxizität sollte aber weiter untersucht werden, genauso der Wirkmechanismus des giftigen Oxidationsprodukts 6PPD-Chinon.

Der Abrieb von Autoreifen ist die grösste Quelle für Einträge von Kunststoff in die Umwelt: Laut einer Modellrechnung entstehen in der Schweiz jährlich 10’600 Tonnen Reifenabrieb, von denen mehr als 8'000 Tonnen tatsächlich in die Umwelt gelangen. Besonders in Kurven und an Ampeln fallen die kleinen Gummipartikel an, die vor allem aus einer Mischung aus Kautschuk, Russ sowie weiteren Stoffen wie Metallen und Weichmachern bestehen. Durch die Reibung und den Kontakt mit anderen Materialien an der Strassenoberfläche enthalten die Partikel ausserdem Asphalt, Bremspartikel, Metalle, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAH) und andere organische Substanzen. Obwohl Reifenpartikel überall in der Umwelt vorhanden sind, wissen wir wenig über ihre potentielle Toxizität. Hier mehr zu erfahren ist das Ziel eines Gemeinschaftsprojekts von Oekotoxzentrum, Eawag und EPFL, das vom World Business Council for Sustainable Development finanziert wird.

Innovativer Test mit Fischzelllinien

Ein Teil des Reifenabriebs kann durch die Strassenreinigung und Abwasserbehandlung zurückgehalten werden. Oft gelangt dieser jedoch auch in Gewässer oder wird auf der Strassenböschung abgelagert. In Oberflächenabfluss wurden bereits Konzentrationen bis zu 100 mg/L Reifenabrieb gefunden, im Flusswasser waren es 4 mg/L. Doch können diese Partikel-Konzentrationen tatsächlich zu einer toxischen Wirkung führen? Um dies zu herauszufinden hat William Dudefoi – Postdoktorand in der Abteilung Umwelttoxikologie der Eawag – die Toxizität der Partikel auf Fische unter die Lupe genommen. Da die Zusammensetzung von Reifenabrieb sehr komplex ist, verwendete er Partikel aus der obersten Sicht von Reifen, um zunächst auf diejenigen Stoffe zu fokussieren, die aus den Reifen selbst stammen.

Für seine Untersuchungen setzte William nicht etwa lebende Organismen ein, sondern eine Zelllinie, die aus den Kiemen der Regenbogenforelle (RTgill-W1-Zelllinie) gewonnen wurde. Zelllinien sind Zellen einer einzigen Gewebeart, die sich in Nährmedium ausserhalb des Organismus vermehren lassen. Der Fischzelllinientest, der in dieser Untersuchung verwendet wurde, war von Eawag-Forscherin Kristin Schirmer in den letzten Jahren entwickelt worden und stellt weltweit die erste standardisierte Alternative zu Versuchen mit lebenden Fischen dar. Inzwischen haben den Test nämlich sowohl die OECD als auch die ISO als neue Richtlinie anerkannt – seine Zuverlässigkeit wurde also auf Herz und Nieren überprüft. Der Fischzelllinientest kann sowohl für die Prüfung von Umweltproben als auch für die Produktentwicklung und die Chemikalienzulassung eingesetzt werden.

Kiemen und Darm als Zielorgane

«Kiemen haben eine sehr grosse Oberfläche und kommen als eines der ersten Organe mit einer Chemikalie in Kontakt – deswegen haben wir für die Fischzelllinie Kiemenzellen verwendet», sagt Kristin Schirmer. Wenn die Kiemenzellen durch eine Chemikalie geschädigt werden, so funktioniert im Fisch die Atmung wahrscheinlich nicht mehr optimal – und diese ist lebenswichtig. Die Lebensfähigkeit der Zellen nimmt dabei ab, was im Zelllinientest mit RTgill-W1 verfolgt wird. «Auf Basis der Fähigkeit einer Chemikalie, die Kiemenzellen zu schädigen, können wir also vorhersagen, wie die Chemikalie auf einen lebenden Fisch wirkt», erklärt Kristin Schirmer. Kontrollversuche haben gezeigt, dass die Toxizitätsdaten, die mit Hilfe der RTgill-W1 Zelllinie bestimmt werden, sehr gut mit Daten übereinstimmen, die mit ganzen Fischen gemessen wurden.

Zusätzlich zur Fischzelllinie aus Kiemen setzen die Forschenden auch eine Zellinie aus Darmepithel ein, nämlich RTgutGC. «Diese Zellinie zeigt uns, wie die Stoffe durch das Darmepithel aufgenommen werden», erklärt William Dudefoi. «Uns interessiert nämlich auch, was mit den Reifenpartikeln nach dem Verschlucken durch die Fische geschieht, also ob Stoffe desorbiert und ob die Partikel in Darmzellen aufgenommen werden.» An Stelle von echtem Reifenabrieb wurden Partikel aus der obersten Schicht von Pirelli®-, Michelin®- und Bridgestone®-Reifen verwendet, die unter Stickstoffkühlung hergestellt worden waren. Die winzigen Teilchen waren zwischen 15 und 300 µm gross.

Verdauung und Alterung verändern Toxizität

Die Forschenden brachten die Fischzellen auf unterschiedliche Weise mit den Partikeln in Kontakt, um den Einfluss verschiedener Faktoren zu beurteilen. Ausser der Wirkung der unbehandelten Reifenpartikel wurde auch die Wirkung des wässrigen Extrakts untersucht, um zu beurteilen, ob aus den Partikeln in der Umwelt giftige Chemikalien ausgewaschen werden. In einem anderen Versuchsansatz wurden die Partikel mit simulierter Magen- und Darmflüssigkeit von Fischen behandelt und die Zellen mit der resultierenden verdauten Flüssigkeit inkubiert. Dies zeigt, ob während der Verdauung im Fisch giftige Stoffe aus den Partikeln herausgelöst werden. Ausserdem wurden die Partikel mit Hitze vorbehandelt: So kann der Einfluss einer Alterung der Teilchen bestimmt werden, da eine Hitzebehandlung den Alterungsprozess beschleunigt .

Die Fischzellen wurden für 24 Stunden mit den verschiedenen Ansätzen zusammengebracht und ihre Lebensfähigkeit gemessen: Diese wurde von ihrer Stoffwechselaktivität und der Unversehrtheit von Membran und Lysosomen abgeleitet. Ausserdem analysierten die Forschenden die chemische Zusammensetzung des Expositionsmediums. «Dies liefert uns Hinweise darauf, welche Chemikalien für die beobachteten Wirkungen verantwortlich sein könnten», sagt William Dudefoi.

Chronische Toxizität sollte weiter untersucht werden

Die Partikelkonzentration, bei der die Lebensfähigkeit von 50% der Fischzellen beeinträchtigt wurde, lagen für die Zelllinie RTgill-W1 bei 2,02 g/L und für die Zelllinie RTgutGC bei 4,65 g/L. Diese Werte stimmen gut mit den wenigen existierenden Messungen zur Toxizität auf Fische überein und liegen drei Grössenordnungen oberhalb der Partikel-Konzentration in Fliessgewässern von 4 mg/L. Dies deutet darauf hin, dass die Partikel-Konzentrationen in Fliessgewässern nicht akut toxisch für Fische sind. Die Konzentration bei der garantiert keine schädliche Wirkung auf die Fischzellen auftritt, lag zwischen 40 bis 130 mg/L. «Dies ist im selben Konzentrationsbereich wie die Konzentration im Strassenabfluss», erklärt William Dudefoi. «Wir empfehlen deswegen, die langfristigen Auswirkungen einer solch hohen Exposition weiter zu untersuchen.»

Die Partikel selbst trugen stark zur beobachteten Toxizität bei: Die Toxizität der Partikel war nämlich deutlich höher als diejenige des wässrigen Extrakts. Eine künstliche Alterung verringerte die Toxizität der Partikel, da weniger Chemikalien ins Medium ausgewaschen wurden. Die künstliche Verdauung führte zu einer höheren Toxizität des Extrakts im Vergleich zum einfachen wässrigen Extrakt. Dies war auf die höhere Konzentration von Metallen und organischen Verbindungen zurückzuführen, die mit der Verdauungsflüssigkeit aus den Partikeln ausgewaschen wurden. Unter anderem wiesen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in dieser Zink, 2-Mercaptobenzothiazol, 1,3-Diphenylguanidin (DPG) und das Antiozonmittel N-(1,3-Dimethylbutyl)-N′-phenyl-p-phenylendiamin (6PPD) nach.

Wirkmechanismus von Lachsgift?

Untersuchungen aus den USA hatten gezeigt, dass 6-PPD-Chinon, ein Oxidationsprodukt des weit verbreiteten 6-PPD, sehr giftig für manche Lachsarten ist und bei Silberlachsen akutes Fischsterben auslösen kann. Auch in diesen Versuchen wurden Spuren von 6PPD-Chinon gemessen. Jedoch zeigten weitere Tests mit der Reinsubstanz keine Toxizität dieser Verbindung auf die Zelllinien RTgill-W1 und RTgutGC bis zu einer Konzentration von 3 mg/L, obwohl andere Studien bereits bei wesentlich niedrigeren Konzentrationen eine Toxizität auf Silberlachse beobachtet hatten. «Es könnte sein, dass Regenbogenforellen deutlich weniger empfindlich auf 6PPD reagieren als Silberlachse», sagt William Dudefoi. «Oder dass die Stoffe einen Wirkmechanismus haben, der nicht mit Kiemen- oder Darmzellen nachgewiesen kann, zum Beispiel Neurotoxizität. Dies möchten wir in Zukunft mit einer Gehirnzelllinie der Regenbogenforelle weiter untersuchen.»

Kontakt

Dr. Benoît Ferrari
Dr. Benoît Ferrari E-Mail Kontakt Tel. +41 (0) 21 693 7445 / +41 (0) 58 765 5373

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